Wenn niemand mehr Fleisch vom Luzerner Schlachthof will
Tierloses Fleisch. Ist das bloss etwas für eine Minderheit? Oder, dank erfolgreicher Forschung, schon bald allgegenwärtig? Bloss ein laues Lüftchen, oder schon bald verheerend für den Agrarkanton Luzern? Oder gar mit Chancen verbunden? Eine Vertiefung lohnt sich.
Traditionelles kann innerhalb einer Generation erodieren: Meine erwachsenen Töchter beispielsweise essen kaum mehr Fleisch, selbst der vegane Anteil wird immer grösser. Fleisch kam in ihren Entwicklungsjahren wöchentlich auf den Tisch, aber nie in dem Masse, wie in meinen fleischgeprägten 70er- und 80er-Jahren.
Meine ersten Batzen verdiente ich in der Küssnachter Falken-Metzgerei, wo noch mitten im Dorf geschlachtet wurde. Oder die unzähligen Besuche bei den Kleinbauernbetrieben meiner Grosseltern in Udligenswil und Buochs: Selbstverständlich gab es da Schinken und Speck zum Zvieri, immer wieder begleitet von hitzigen politischen Diskussionen meiner erwachsenen Verwandten.
In-vitro-Burger oder Luzerner Schlachthof-Fleisch?
Daran wird sich in manchen Bauernstuben nicht viel geändert haben. Die Landwirtschaft ist ein politischer Dauerbrenner, neue Themen gibt es allenthalben, und regelmässig weht der wohl ältesten Branche ein steifer Wind entgegen. So forderte beispielsweise Ende April das Migros-nahe Gottlieb Duttweiler Institut nichts Geringeres als den Ausstieg aus der klassischen Fleischproduktion.
Diese sei nicht mit dem notwendigen Klimaschutz vereinbar. Fleischersatzprodukte sollens stattdessen richten. Von der Sojawurst über Fermentierungen (Pilze, Algen) bis hin zur zellulären Produktion, dessen «Fleisch» sich kaum mehr vom tierischen Original unterscheiden lässt. Ein erster «In-vitro-Burger» wurde 2013 von den verantwortlichen niederländischen Forschenden verspeist – seine Produktion kostete satte 250’000 Franken!
Seither schiessen weltweit Start-ups aus dem Boden, das Rennen ist eröffnet: In Zukunft soll man etwa dank «Stammzellen-Fleisch» keinen Unterschied mehr feststellen – und das künstlich erzeugte Produkt soll erst noch umwelt- und klimaverträglicher, gesünder und preiswerter sein. Ähnliche Entwicklungen gibt es auch bei anderen tierischen Produkten wie Milch und Eier. Sollten diese Visionen Realität werden – wer kauft dann noch «Schlachthof-Fleisch»?
Betörendes Tempo beim alternativen Fleisch
Alles Hirngespinste? Die Zukunft wirds zeigen. Den oben erwähnten Burger gibts immer noch nicht in der Migros, der Produktionspreis hat sich in den neun Jahren aber um den Faktor 28’000 auf noch 9 Franken reduziert. Bei dieser Forschungsgeschwindigkeit sei die Frage erlaubt: Wäre der bedeutende Agrarkanton Luzern auf solche Marktverwerfungen vorbereitet, bei denen in kurzer Zeit ein Grossteil der klassischen Fleischnachfrage wegbräche?
Immerhin leben innerhalb der Kantonsgrenzen mehr Schweine als Menschen (430’000 versus 416’000). Mehr als die Hälfte der Kantonsfläche wird landwirtschaftlich genutzt. Und jeder elfte Arbeitsplatz ist direkt oder indirekt von der Land- und Ernährungswirtschaft abhängig (Zahlen 2017).
Ist auch die hiesige Landwirtschaft an einem ähnlichen Wendepunkt, wie die Faxproduzenten Anfang der Neunzigerjahre, kurz bevor das World Wide Web seinen Siegeszug antrat und den altbewährten Fax in die Bedeutungslosigkeit verbannte? Fliessen solche Szenarien in angeregte Bauernstubendiskussionen ein? Und falls ja, werden solche als Bedrohung oder als Chance gesehen?
Auswirkungen auf den Agrarkanton Luzern?
Aus produzierender Sicht überwiegt zunächst wohl die Angst vor ungewünschten Veränderungen. Kein Wunder: Heute werden 80 Prozent der landwirtschaftlichen Luzerner Nutzfläche zur Tierfutterherstellung genutzt. Wie könnte diese bei mangelnder Nachfrage stattdessen bewirtschaftet werden? Etwa für Nahrungsmittel, welche keinen Umweg über Tiermägen machen? Zusätzlich für pflanzliche Ausgangsstoffe, welche für die alternative Fleischproduktion benötigt werden?
Die typischen Grasflächen dürften zunehmend Acker- und Gemüsebeet-ähnlichen Nutzungen weichen. Bei Steillagen und Alpwirtschaften wäre eine Umstellung besonders schwierig. Gut möglich, dass dort eine Bewirtschaftung mit Tieren die beste Lösung bleibt. Insgesamt dürften bei einem solchen Szenario grosse landwirtschaftliche Flächen freigespielt werden. Liegt dort die Chance? Wie soll man diese dann in Zukunft nutzen? Etwa mit zusätzlichen Siedlungsflächen? Oder mit mehr Biodiversität? Beispielsweise kombiniert mit erneuerbarer Energieproduktion? Wie sähe so etwas aus?
Flucht nach vorne, dank nachhaltigerer Bodennutzung?
Etwa, indem auf eingedrehten Pfählen grossflächige Solaranlagen installiert werden (welche mit Vorteil in der Schweiz oder im europäischen Umfeld produziert werden). Diese kombiniert man mit nationalen Stromspeichern, etwa mit Pumpspeicherkraftwerken. Dank grossen Mengeneffekten könnte man die Stromkosten somit tief halten.
Automatisches Nachsteuern nach dem Sonnenstand könnte die Stromproduktion ausserdem erhöhen. Steilstellen vor aufziehenden Hagelgewittern und nach Schneefall kann die Schäden und den Ausfall reduzieren. Zwischen den Kleinkraftwerken könnte man die Biodiversität entweder sich selbst überlassen oder bewusst steuern. Und, wenn die Photovoltaikpanels nach 25 oder 30 Jahren ihr Lebensende erreichen, kann man diese ersetzen – oder die Pfähle einfach herausdrehen und den Boden anderweitig nutzen.
Im besten Fall gut vorbereitet
Der Preis? Bestimmt eine visuelle Veränderung der Landschaft. Der Gewinn? Eine Zukunft für die hiesige Landwirtschaft, Biodiversität, Energieversorgung und erst noch Unabhängigkeit von unberechenbaren Energielieferanten.
Lohnt sich heute diese Debatte? Ich denke schon. Trifft das Szenario nicht ein, ist nichts verloren. Trifft es ein, sind wir im besten Falle vorbereitet.